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Erinnerungen von Stefan Zweig: "Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötzte mich immer wieder neu an dem Erstaunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzählte, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. Man stieg ein und aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich."
Diese Erinnerungen Stefan Zweigs, die er kurz vor seinem Selbstmord im brasilianischen Exil 1942 verfasste, sind von der Erfahrung mit Flucht und Vertreibung in einem nationalistisch vergifteten Europa geprägt. Gleichzeitig zeugen sie von der Weltfremdheit des begüterten Kosmopoliten. Die Wirklichkeit stellte sich auch vor 1914 anders dar, als sie Stefan Zweig und manche seiner Zeitgenossen subjektiv empfanden. Während die Passkontrollen zwischen den westeuropäischen Staaten seit den 1860er Jahren sukzessive abgeschafft wurden, waren Aufenthalt und Bewegung innerhalb der Staaten erheblich eingeschränkt. Sie waren an ausreichenden Unterhalt bzw. eine Arbeitsstelle gebunden. Im Fall der Verarmung wurden Arbeitsmigranten in ihr Heimatland abgeschoben. In Ländern, in denen soziale und kommunale Rechte das Heimatrecht in einer bestimmten Gemeinde zur Voraussetzung hatten, gehörte der Schub innerhalb des Landes zu den prägenden Erfahrungen von ArbeitsmigrantInnen.
Heimatrecht. Die Abschiebung stand in engem Zusammenhang mit dem Heimatrecht, das neben dem Recht auf Aufenthalt in einer bestimmten Gemeinde insbesondere den Anspruch auf Armenversorgung beinhaltete. Erworben wurde die Zuständigkeit oder das politische Domizil, wie das Heimatrecht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts meist genannt wurde, durch Geburt bzw. Abstammung; im Fall der Übersiedlung erlangte man eine neue heimatrechtliche Zuständigkeit in der Regel nach einer Aufenthaltsdauer von 10 Jahren. Während Heimatrechtsfragen lange Zeit hauptsächlich im Zusammenhang mit Bettlern und Vagabunden virulent wurden, kam der Festlegung der Zuständigkeit jedes einzelnen Menschen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts grundsätzliche Bedeutung zu: er/sie sollte erfasst und räumlich verortet werden. Da der Anspruch auf Armenversorgung im Fall der Bedürftigkeit nur in der Heimatgemeinde einlösbar war, endete die Verarmung in der Fremde oft mit der Abschiebung in die Heimatgemeinde. Damit war eine klare Grenze zwischen "einheimisch" und "fremd" gezogen, die mit der Heimatgemeinde auch einen räumlichen Bezug hatte.
Im 1902 erschienenen, sozialdemokratisch orientierten Volkstümlichen Handbuch des österreichischen Rechts von Ingwer und Rosner wird das Verhältnis von Ausweisungsrecht und Bewegungsfreiheit dahingehend charakterisiert, daß der im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 "in so klarer Form ausgesprochene Grundsatz, daß die Freizügigkeit der Person ... keiner Beschränkung unterliege”, im Schubgesetz "einen sehr netten Commentar erhalten”, das Recht auf Freizügigkeit der Person "ganz illusorisch” gemacht und die "österreichische Freizügigkeit auf den Schubkarren gesetzt” habe.
In dem Beitrag der Internetzeitschrift forum histoiae iuris (FHI ist die erste Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte in Europa) wird nun gezeigt, dass diese Kritik nicht nur aus sozialdemokratischer Perspektive zutreffend war sondern auch generell für die Frage nach der Vorbildlichkeit der Habsburgermonarchie als Rechtsstaat von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Und warum nur erinnert dieses Zitat aus der Arbeit von Ilse Reiter (Die Freizügigkeit auf dem Schubkarren ...) so an die Gegenwart?
"Angesichts der so auf vielfältige Weise völlig ausgehöhlten Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit fällte Alois Zucker bereits 1894 das zutreffende Urteil, daß nichts 'unsere ganze Verfassungsgesetzgebung in einen so betrübenden ..., in einen so wohlverdienten Misscredit gebracht' habe, 'als jene Methode, nach der man ohne vieles Besinnen manche Gesetze schuf, durch welche die Rechtswirksamkeit eines Principes aufgehoben wurde, das man ganz kurz zuvor feierlich urbi et orbi als ein staatsgrundgesetzlich verbürgtes verkündet hatte. Mit diesem Zuge der Unaufrichtigkeit, der das, was er mit der einen Hand scheinbar freigebig spendete, fast unmittelbar darauf mit der andern Hand, wenn nicht zur Gänze, so doch zum guten Theile wegnimmt, oder doch wesentlich verkürzt', könne sich 'eine neu heranziehende Epoche nicht befreunden'."
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Ilse Reiter: Die Freizügigkeit auf dem Schubkarren - Zum Spannungsverhältnis von Ausweisungsrecht und Bewegungsfreiheit in der Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert - Artikel vom 5. April 2001 © 2001 Erstveröffentlichung forum historiae iuris (Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte)
Andrea Komlosy: Begrenzte Durchlässigkeit - Personenfreizügigkeit an den Binnen− und Außengrenzen von Habsburgermonarchie und Europäischer Union, Published 2005−01−11 Eurozine
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